G 1/23 – Erzeugnisse müssen laut EPA nicht mehr nacharbeitbar sein, um Stand der Technik zu bilden

Rechtsprechung | 21.07.2025

Am 02. Juli 2025 hat die Große Beschwerdekammer die Entscheidung G 1/23 im „Solar Cell“-Verfahren veröffentlicht, an dem Hoffmann Eitle als Vertreter seiner langjährigen Mandantin Mitsui Chemicals, Inc. maßgeblich beteiligt war. Die Große Beschwerdekammer entschied, dass ein in Verkehr gebrachtes Erzeugnis nicht allein deshalb vom Stand der Technik ausgeschlossen werden könne, weil seine Zusammensetzung oder sein innerer Aufbau durch den Fachmann nicht analysierbar oder nacharbeitbar sei, und dass außerdem alle technischen Informationen über ein solches Erzeugnis zum Stand der Technik gehörten.

Dies stellt eine wesentliche Änderung in der Rechtsprechung der vergangenen 30 Jahre seit der Meinung G 1/92 dar, in der die Große Beschwerdekammer die Auffassung vertreten hatte, dass nur dann sowohl ein Erzeugnis als auch seine Zusammensetzung oder sein innerer Aufbau zum Stand der Technik gehörten, wenn es dem Fachmann möglich sei, die Zusammensetzung oder den inneren Aufbau des Erzeugnisses in Erfahrung zu bringen und ohne unzumutbaren Aufwand nachzuarbeiten. In der vorliegenden Entscheidung hielt die Große Beschwerdekammer das Kriterium der Ausführbarkeit aus G 1/92 für redundant und war der Meinung, dass ein Erzeugnis zum Stand der Technik gehöre, wenn ein Fachmann das physische Erzeugnis unabhängig von jedem Aspekt der Ausführbarkeit erhalten und besitzen könne.

Diese Entscheidung wird weitreichende Auswirkungen auf Einspruchs- und Einspruchsbeschwerdeverfahren haben. Außerdem bleibt abzuwarten, ob die ständige Rechtsprechung zu schriftlichen Offenbarungen, die im Allgemeinen nur dann als Stand der Technik behandelt werden, wenn ihre Lehre ausführbar ist, Bestand haben wird, insbesondere im Falle schriftlicher Offenbarungen, die Erzeugnisse betreffen, die nicht nur hypothetisch sind, sondern eindeutig physisch existieren.

Ferner wird in der vorliegenden Entscheidung hervorgehoben, dass Erzeugnisse zwar unabhängig von ihrer Ausführbarkeit zum Stand der Technik gehörten, dies aber nicht bedeute, dass ein solches Erzeugnis zwangsläufig zum relevanten Stand der Technik gehöre. Je nach Umständen kann ein Erzeugnis im Hinblick auf Neuheit relevant, als Ausgangspunkt für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit jedoch ungeeignet sein, da die Tatsache, dass der Fachmann das Erzeugnis nicht nacharbeiten kann, eine relevante Information sein kann, die bei der Auswahl des nächstliegenden Stands der Technik zu berücksichtigen ist. Es ist daher davon auszugehen, dass dieser Aspekt insbesondere in Einspruchsverfahren möglicherweise zur Debatte stehen wird, so dass Argumente im Hinblick auf Ausführbarkeit nicht vollständig aus Einspruchsverfahren vor dem Europäischen Patentamt (EPA) verschwinden werden.

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